Konzeption in der Krise

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Dieser Artikel ist erstmals im Frühjahr 2019 in der Ausgabe 2/2019 des Magazin „designreport“ erschienen und für mich immer noch aktuell. Auch wenn uns gerade eher eine gesamtgesellschaftliche Krise herausfordert, als eine explizite Krise der Konzeption.

In einem Interview hat Sandro Gaycken geäußert: „Die Krise wird das Spielerische in der Digitalisierung abtöten und uns einen harten Pragmatismus aufzwingen. Das Digitale muss jetzt wirklich nützlich sein. Wer diese Perspektive für sich einnehmen kann, wird sich unter die Krisengewinner rechnen dürfen.“ Ich hoffe dagegen, dass das Spielerische uns doch ein wenig erhalten bleibt, da es aus meiner Sicht durchaus sehr nützlich sein kann. Nichtsdestotrotz muss sich die Konzeption digitaler Lösungen stark wandeln. Für Kreativitätssimulationen und Innovation als Ausflucht wird kein Raum mehr sein.

Die Illustration hat Christoph Grünberger u.a. Autor des bei Lars Müller Publishers erschienenen Buchs „Analog Algorithm“ für mich gestaltet. Hierfür bin ich ihm sehr dankbar.


Die digitale Transformation hat Wirtschaft, Gesellschaft und Politik fest im Griff. Doch je dringlicher die Notwendigkeit zum Handeln wird, umso stärker scheinen die Antworten der Produktentwickler zu schwächeln. Potentiale und Resultate driften immer weiter auseinander. Unser Gastautor, selbst Digital-Stratege und Software-Konzeptioner, formuliert Ansätze, um einer digitalen Konzeptkrise Herr zu werden.

Im Herbst 1968 trafen sich in Garmisch-Partenkirchen auf Initiative der NATO führende Köpfe der Softwareentwicklung. Die Komplexität der Softwareentwicklung hatte sich zugespitzt, man sprach von einer Software-Krise. Um dieser Herr zu werden, begann man die neue Disziplin des Software-Engineering massiv zu fördern. Als neue Profession etablierte sich vor allem der Software-Architekt als zentraler technischer Konstrukteur für neue Produkte.  

Knapp 50 Jahre später wurde 2017 auf dem World Economic Forum in Davos für die globale digitale Transformation eine Wertgenerierung von 100 Trillionen US Dollar postuliert. Von derartigen Verheißungen getrieben, hat sich allerorten ein intensiver Digitalisierungsdruck aufgebaut. Software ist hier der wichtigste Grundstoff; und die Komplexität digitaler Produktentwicklung nimmt weiter zu.

An Diskussionsrunden zur Digitalisierung mangelt es nicht; auf Hackathons werden auch mal schnell Lösungen zusammengebaut. Doch wie viele der aktuellen digitalen Produkte und Services bieten dem Nutzer einen wirklichen Mehrwert, wie viele bieten Antworten auf gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Fragen? Es mangelt an konzeptioneller Kompetenz, die Ideen aus verschiedenen Blickwinkeln so ausformuliert und auf ein stabiles Fundament stellt, dass sie effizient und sinnvoll realisiert werden können. Ingenieursorientierte Software-Architekten ebenso wie herkömmlich ausgebildete Designer können diese Tätigkeit nur in Teilen abdecken. Eine digitale Konzeptkrise ist vorprogrammiert.

Im Dickicht

Für die Vorhaben der Softwareentwicklung werden immer stärker spezialisierte Fachleute wie Requirements Engineers, Business Analysts, Psychologen, Industrie-, UX- und Service-Designer einbezogen. Hier treffen sie mit ihren jeweils eigenen Sichtweisen, Schwerpunkten und Fachtermini aufeinander. Die Praxis der Softwarekonzeption steht im Spannungsfeld zwischen hoher Geschwindigkeit, die durchs Management getrieben und als wesentlicher Erfolgsfaktor verstanden wird, sowie einem notwendigerweise sorgsamen Vorgehen in Konzeption und Gestaltung.

Unter Einsatz maximaler Automatisierung werden die Produktionsmodelle der Softwareentwicklung und -Bereitstellung radikal umgebaut, so dass in hoher Taktung Lösungen entwickelt und optimiert werden können. Diese kontinuierliche Fertigung fordert aber auch kontinuierlich konzeptionellen Input – die Frage nach Zweck, Kontext, Nutzerführung, Ästhetik. Auf dem Weg dorthin stolpert man jedoch noch häufig über Kleinteiligkeit in der Planung und der interdisziplinären Kollaboration; das große Ganze rückt zu oft aus dem Blick.

Verlockungen

Um diesen Spagat zwischen holistischer Konzeption und iterativer, disziplinenübergreifender Umsetzung möglich zu machen, setzen viele Branchen auf einfache Lösungswege. So klärte das dem Hohelied der Effizienz verpflichtete Beratungshaus McKinsey kürzlich in dem Report »The business value of design« über den wirtschaftlichen Wert von Design auf und reihte neben drei trivialen Designgrundsätzen salopp den Begriff der “analytischen Führerschaft” ein. Dem Management wird die Idee vermittelt, dass sich die konzeptionelle Praxis in ein rationalistisches Weltbild der Kausalität und Messbarkeit einfassen lässt. Doch wer Design- und Innovationsentwicklung betreibt, weiß: so funktioniert das nicht.

Als Methode, um der Komplexität in der Produktentwicklung Herr zu werden, wird derzeit agiles Vorgehen gefeiert. So wertvoll die Impulse des Manifests für agile Produktentwicklung (agilemanifesto.org) sind, so fraglich ist die Wirksamkeit der Tools, wenn sie mit kultartiger Konsequenz und einer zur Schau getragenen Umtriebigkeit umgesetzt werden. Vor allem ein fundamentalistisches Verständnis der Scrum-Methodik führt die Forderung, Individuen und Interaktionen in den Vordergrund zu stellen, ad absurdum. Eine bürokratisch anmutende Fixierung auf Prozesse und Werkzeuge wie Planing-Poker oder Burn Down Charts bietet wenig Platz für eine kreative und dabei strukturierte Konzeption.

Wohlklingende Vokabeln wie künstliche Intelligenz, Blockchain und digitale Transformation machen Zusammenhänge scheinbar handhabbar. Jedoch verschleiern sie die dahinterliegende Komplexität und verhüllen oft die Tatsache, dass der Absender auch keine konkreten Lösungsansätze für die digitalen Herausforderungen hat. Hier zeigt sich die Relevanz intensiver Konzeptionsphasen, die durch unnachgiebiges Nachfragen und präzises Ausformulieren der Ideen zur Klärung beitragen. Dabei ist ein freies, entspanntes Verhältnis zur Technik notwendig. Bedauerlicherweise unterwirft sich die „weiche“, schwer messbare Konzeptionsarbeit im Produktentwicklungsprozess häufig der technischen Umsetzung – statt sie zu entwerfen.

Lichtung

Was muss sich ändern, damit die Konzeptionsarbeit im digitalen Entwicklungsprozess den Raum erhält, den sie benötigt? Die dem Design implizite Denkweise bietet eine solide Basis für Konzeption, die selbst zur Gestaltungsarbeit gehört. Die wichtigste Voraussetzung wäre, Verständnis für die Komplexität der Konzeptions- und Gestaltungsarbeit zu schaffen. Dazu sollte man sich zunächst von den Vereinfachungen verabschieden, mit denen die Wirtschaft Design gegenwärtig zu fassen versucht.

1. Design Thinking?

Design Thinking ist in der Wirtschaft durchaus wertvoll, um ein Grundverständnis für entwerferisches Arbeiten auch bei Software-Entwicklern, Betriebswirten und Ingenieuren zu schaffen. Das Tool darf jedoch Design als handwerkliche Disziplin nicht zurückdrängen. Mehr denn je braucht es den Respekt für die Meisterschaft, die durch Erfahrung und Training erworben wird. Das intensive Durch-Gestalten digitaler Produkte braucht Zeit – und fundierte Kenntnisse der digitalen Materialität, der Pixel und Algorithmen, sowie der Grundprinzipien der Programmierung als Kern des Realisierungsprozesses. Gruppenarbeit hat dabei ihre Stärken im Variieren und Kritisieren von Ideen, doch bleibt das Finden und Ausarbeiten von Ideen meist Einzelarbeit. So entsteht Raum für die enge Verzahnung von Konzeption und Handwerk.

2. User Centricity?

Die Bedürfnisse der Nutzer antizipieren zu können, ist ein nachweislich erfolgskritischer Faktor – jedoch nicht der einzige. Konzeption ist immer strategisch, muss also das Spannungsfeld von Nutzer, Technik, Prozess und Geschäft im Gesamtkontext aktiv suchen. Das bedeutet, die einzelnen Stakeholder, auch gegen Widerstände, immer wieder aus ihrer Silodenke herauszuholen und an alle Aspekte der Vision zu erinnern. Dies kann das Tempo kurzfristig bremsen, das Ergebnis aber verbessern und Korrekturschleifen reduzieren.

3. Product Experience?

Eine wesentliche Stärke des Gestaltungshandwerks liegt in der Konkretheit und Erfahrbarkeit von Lösungsentwürfen. Software – als technologische »Formmasse« – wirkt jedoch zunächst im Verborgenen, hat aber im Ergebnis weit reichende, auch soziale Konsequenzen. Daher gilt es, über die reine Produktentwicklung hinaus zu denken und in der Konzeption gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Auswirkungen der technischen Möglichkeiten zu bedenken und Widersprüche offen zu legen. Vor allem systemorientierte Methoden wie grafische Modellierungssprachen, die die Informatik in Fülle mitbringt, sind in der Praxis nützlich und trainieren hybrides Denken.

Welche Profession kann also Seite an Seite mit der technischen Software-Architektur und dem klassischen Design die Digitalisierung intellektuell vorantreiben? Persönlichkeiten wie Gui Bonsiepe als Designer und Terry Winograd als Informatiker haben bereits in den 1980er und 1990er Jahren den Grundstein gelegt, wie eine grundlegende, ehrliche Öffnung zwischen Softwareentwicklung und Gestaltung aussehen kann. Mit dem Digital Design Manifest hat der IT-Branchenverband Bitkom letztes Jahr einen weiteren Anstoß gegeben (digital-design-manifest.de). Die Kompetenzen, die ein hybrid denkender Digitalkonzeptioner zwischen Strategie, Design und Softwareentwicklung benötigt, ist vor allem digitale Materialkunde. Und die umfasst die profunde Kenntnis der Programmierung, Prozessgestaltung – und ein großes Verständnis für die und Möglichkeiten, Auswirkungen und Bedeutung von Daten.

Auch wenn es an den Hochschulen und im Arbeitsalltag gute Ansätze gibt – eine wirklich visionäre Idee zur Etablierung eines konzeptionsbasierten Digital Design ist in Deutschland noch nicht zum Fliegen gekommen. Fordert das hundertjährige Jubiläum der Bauhau-Gründung nicht geradezu ein »digitales Bauhaus«?

By David Gilbert

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