Freude am Perspektivwechsel

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Dieser Artikel wurde als Beitrag im Sammelband „Digital Design @ Bauhaus“ veröffentlicht.

Einleitung

Im Folgenden fragen wir nach der Technik. Das Fragen baut einen Weg. Darum ist es ratsam, vor allem auf den Weg zu achten und nicht an einzelnen Sätzen und Titeln hängenzubleiben. Der Weg ist ein Weg des Denkens. […] Wir fragen nach der Technik und möchten dadurch eine freie Beziehung zu ihr vorbereiten. Frei ist die Beziehung, wenn sie unser Dasein dem Wesen der Technik öffnet. Entsprechen wir diesem, dann vermögen wir es, das Technische in seiner Begrenzung zu erfahren.

(Martin Heidegger “Die Frage nach der Technik”)

Position

Die digitale Transformation scheint ungeheure wirtschaftliche Potentiale entfalten zu können. Technologie ist hier der entscheidende “Ermöglicher”. Auf dem Weg, die Möglichkeiten zu entfalten, muss jedoch wesentliches geklärt werden:

  • Welche Möglichkeiten genau stecken in der Technologie drin?
  • Zu welchem Zweck sollen diese genutzt werden?
  • Wie können sie handwerklich entfaltet werden?

Digitalisierung als Lebensgestaltung

Das 100-Jahre-Bauhaus-Jubiläum kann als Einladung gesehen werden, sich hierüber Gedanken zu machen. Ein Ausgangspunkt ist, die Digitalisierung als Lebensgestaltung in der heutigen Infosphäre zu begreifen. Die dunkle Seite dieser Infosphäre hat Frank Schirrmacher in seiner Beschreibung des Informationskapitalismus eindringlich beschrieben.[1] Um sowohl die dunkle als auch die helle Seite der Infosphäre zu verstehen, ist es nützlich, die digitalen Technologien als ein Feld zu betrachten, auf welches die unterschiedlichsten Kräfte und Strukturen einwirken – und diese offenzulegen. Hierdurch kann die Grundlage für eine freie digitale Entwurfspraxis geschaffen werden, die den verschiedensten kontextuellen Bezügen (sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, …) gerecht wird. Mit seinem Vorkurs hat das Bauhaus seiner Zeit ein Programm geschaffen, um in ein damals angemessenes, strukturelles Denken zu kommen.

Im Folgenden sollen einige Gedanken dargelegt werden, die vor, während und nach dem Digital Design @ Bauhaus Workshop des Bitkom entstanden sind.

Flexibilität des Denkens

Grundlegende Anforderung, um in ein heute angemessenes strukturelles Denken zu kommen, wäre gedankliche Flexibilität in den folgenden Dimensionen:

  • kurzfristig – langfristig
    • lokal – global
    • praktisch – fantastisch
    • herausfordernd – kritisch
    • frei – geführt


Gestaltung für den Menschen

Weiterhin braucht es ein Bewusstsein für die verschiedenen Zielorientierungen, die in der Gestaltung von digitalen Lösungen vorherrschen. Die traditionell kognitionspsychologische, ingenieursmäßige Vorgehensweise sollte sich stärker hin zu einer “humanistischen” Gestaltung entwickeln, die das Wohlbefinden der Nutzer als Gestaltungsziel ernstnimmt. Anstatt Dinge nur rein symbolisch mit Erlebnissen aufzuladen, gilt es Dinge zu gestalten, die durch ihre Nutzung Erlebnisse tatsächlich erzeugen.[2]

Von innen und außen her bauen

In der Tätigkeit des Entwerfens wirken stets Werkzeuge, Methoden und Material zusammen. Bei Werkzeugen und Methoden lässt sich aus einem breiten Spektrum unterschiedlichster Praxisgebiete wie Usability Engineering, User Experience Design, Service Design, aber auch Software Engineering schöpfen. Als Ursprungsquellen treffen hier Informatik und Design aufeinander. Und somit zum einen eine systemorientierte Perspektive für den Aufbau einer Lösung von innen heraus, und zum anderen eine designorientierte Perspektive von außen und auf die Wirkung ausgerichtet.

Zugang zum Material

Nach dem Material “des Digitalen” zu fragen, wirkt im ersten Moment etwas sperrig. Laut Brockhaus kann unter Material “die Gesamtheit von Hilfsmitteln, Gegenständen, Unterlagen, die man zur Herstellung eines Gutes braucht” verstanden werden.[3] Hiernach kann man auch schematisch sagen: alles was ich für Digitale Lösungssysteme an Hard- und Software brauche. In der Praxis zeigt sich jedoch folgendes Phänomen: Das Material, mit dem wir in der Entwicklung komplexer digitaler Lösungen arbeiten, wird aus Designsicht (UX, Interaction Design…) häufig mit zu großem Abstand aus einer zu vereinfachten Makro-Perspektive betrachtet. Und auf der anderen Seite aus Ingenieurssicht (Technische Architekten, Programmierer) mit zu geringem Abstand aus einer hoch aufgelösten Mikro-Perspektive. Beide Perspektiven sind vor dem Hintergrund des jeweiligen Handlungsfokus verständlich, bereiten jedoch, wenn sie unvermittelt aufeinandertreffen, immer wieder Probleme.

Eine freie Beziehung zum Material

Es scheint daher durchaus nützlich, sich mit dem Material der digitalen Gestaltung auf neue handwerkliche, wissenschaftliche und spielerische Art und Weise auseinanderzusetzen. Das Material als Mittel zum Zweck zu begreifen, aus dem eine Ordnungsebene höher Werkzeuge bzw. Lösungen geschaffen werden können. Denn Entwürfe realisieren sich erst durch Material. Dieses kann im Laufe einer Ausarbeitung bestimmt werden, aber auch die Grundlage für einen Entwurf sein. Vom Menschen auf die Technik schauen, und von der Technik auf den Menschen sind somit ebenfalls zwei wichtige Perspektiven für eine digitale Lebensgestaltung.

Schlussfolgerung

Eine freudvolle Fähigkeit zum Perspektivwechsel könnte der zentrale Aspekt eines neuen Experten für das digitale Gestalten sein. Herausforderungen gibt es für diesen zur Genüge. In der Praxis zeigt sich aktuell jedoch leider eine große Zerrissenheit der Perspektiven, und es kann durchaus eine Krise der konzeptionellen Gestaltung diagnostiziert werden[4]. Etablierte Praxisgebiete sehen sich anscheinend in einem Wettstreit um Führungsrollen und Deutungshoheiten, paradoxerweise auch bezüglich der Interdisziplinarität. Das Bild erinnert an die typisch deutsche Kleinstaaterei. Ein Digital America und ein Digital Asia wird das nicht interessieren. Daher wird es schleunigst Zeit, eine übergreifend vereinte digitale Gestaltungskultur voranzutreiben, um letztlich auf dem Bauplatz der Digitalisierung nach unseren gemeinsamen Werten gestalten zu können. Hierzu braucht es im nächsten Schritt ein Kernmodell des Digital Design, das die verschiedenen Perspektiven verschmilzt und als “Operating System” dienen kann. Mit Freude am Perspektivwechsel kann dieses vielleicht gelingen.


[1] Vgl. Schirrmacher, F. (2013). Ego: Das Spiel des Lebens. Karl Blessing Verlag.

[2] Vgl. Diefenbach, S., & Hassenzahl, M. (2017). Psychologie in der nutzerzentrierten Produktgestaltung. Berlin: Springer.

[3] Vgl. Brockhaus Enzyklopädie Online (Abruf: 04.05.2019)

[4] Vgl. Gilbert, D. (2019). » Konzeption in der Krise «. Designreport, 7(8), 2006.


Photo by Nick Shandra

By David Gilbert

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